Wozu braucht man Graduierungen?
Wenn man Aikido (oder eine andere Kampfkunst) erlernen will, ist der Unterrichtende für die Lehre verantwortlich.
Für das Lernen allerdings sind die Schüler selbst verantwortlich, und es ist entscheidend, mit wieviel Hingabe und Eifer der Einzelne lernt, wie er bewußt mit dem ihm Dargebotenen umgeht etc. Reicht es denn daher nicht aus, wenn jeder sich um sein eigenes Fortkommen kümmert ungeachtet jeglicher Graduierung? Letztlich ist doch das tatsächliche Können unabhängig davon, ob eine(r) einen weißen, grünen oder schwarzen Gürtel (und dazu vielleicht einen Hosenrock oder auch nicht) trägt. Wer hat sich nicht schon einmal insgeheim über den jeweiligen Grad eines Anderen gewundert, im Positiven wie im Negativen?
In den alten Künsten (koryu) gab und gibt es schließlich auch keine Graduierungen im heutigen Sinne. Dort werden Urkunden vergeben, die eine Lehrerlaubnis bzw. das Maß der empfangenen Überlieferung des Stils bezeugen. Aber andererseits erfüllen diese Beurkundungen doch einen wichtigen Zweck von Graduierungen: sie drücken in einem gegebenen System eine Glaubwürdigkeit und Authentizität aus, ohne die eine Fortführung eben dieses Systems keinen Bestand hat. Wenn ich in eine neue Stadt ziehe und ein Dojo suche, möchte ich schließlich wissen, welchen Stil ein Lehrer unterrichtet, wer seine Lehrer sind und waren usw. Seine jeweilige Graduierung gibt mir darüber eine erste Auskunft.
Gelegentlich sind Graduierungen und Zertifikate auch Voraussetzung für die Zulassung zu bestimmten Bereichen der Lehre. Und wer weiß, ob nicht ein Lehrer bei allem Bemühen um Objektivität das Bedürfnis verspürt, einem einzelnen Schüler zu verstehen zu geben: „Du hast dich aufrichtig und ernsthaft bemüht, und was du für dich geleistet hast, verdient meine Anerkennung.“?
Sind denn dafür Prüfungen notwendig?
In einem kleinen überschaubaren Rahmen mit einem Meister und vielleicht ein- oder zweihundert Schülern ist es denkbar, daß der Meister jeden seiner Schüler hinreichend gut kennt und beim Training beobachtet, so daß er Graduierungen ohne Prüfung vornehmen kann. In einer größeren Organisation ist das aber nicht mehr praktikabel. Wenn hier Graduierungen vergeben werden sollen, ist also ein irgendwie geartetes Beurteilungsinstrument nötig. Typischerweise besteht dieses aus einer formalisierten Situation, in der der zu Graduierende nach gewissen Vorgaben einen Teil seines bis dahin erlangten Könnens vorzeigt. Und so etwas nennt man eine Prüfung.
Natürlich kann jeder für sich selbst entscheiden, daß er sich dem nicht aussetzen will. Aber in einer Prüfung treten Aspekte auf, die im üblichen Training nicht unbedingt vorkommen.
Normalerweise trainieren wir ja so, daß vorne der Lehrer steht und mit einem Schüler etwas vorzeigt, und wir dann paarweise versuchen, die Bewegung nachzumachen. Spätestens in der Prüfung aber wird von uns verlangt, etwas zu tun, was uns nicht unmittelbar vorgemacht wird. In den Anfängerprüfungen wird jeweils angesagt, was zu tun ist, und der Prüfling muß dann das Gewünschte tun; in Fortgeschrittenenprüfungen sind die Vorgaben dann nicht mehr so explizit, und der Einzelne muß nun unmittelbar aus sich selbst heraus das Erlernte hervorbringen. Daneben ist eine Prüfung eine Streßsituation, auch wenn jeder anders damit umgeht. Man ist exponiert. Auf sich selbst gestellt befindet man sich unter dem kritischen Blick eines oder mehrerer Prüfer vor einem Publikum von unter Umständen mehr als hundert Zuschauern.
Von daher können Prüfungen, egal ob sie eine objektive Aussagekraft besitzen oder nicht, jedem dazu dienen, sich selbst zu bewerten: Habe ich in der vergangenen Zeit etwas dazu gelernt? Steht mir das Erlernte auch unter Druck zur Verfügung? Sind meine Bewegungen besser, runder, geschmeidiger geworden? Gelingen mir meine Techniken, auch wenn zwischen mir und meinem Übungspartner keine Absprache besteht?
Endo Seishiro Sensei sagt dazu:
Graduierungen sind ein Mittel das Vermögen und den Fortschritt des Einzelnen mit einer Reihe von festgelegten Anforderungen objektiv zu bewerten. Ich glaube aber, daß ein solcher Standpunkt für die Suche nach dem Tao [Dō] ohne Bedeutung ist. Denn wie weit und wie tief jemand gegangen ist, sind innere Fragestellungen, die nur der Übende selbst beantworten kann. Ich bin zu der Ansicht gelangt, daß es unmöglich ist, die Tiefe des Strebens eines jeden Einzelnen mit Hilfe eines festgelegten Maßstabes zu bemessen. – aus Thinking About „Dan“ From „Dō (Tao)“ –
Wie auch immer, in dem Rahmen, in dem wir Aikido üben, gehören Prüfungen zur persönlichen Weiterentwicklung dazu und ist das Bestehen einer Prüfung Bedingung für die Erlangung einer Graduierung, die in diesem Rahmen von Bedeutung ist. Aber auch nur dort.
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