Aikido in Zeiten der Pandemie – eine Chance?!

Veröffentlicht in: Aikido, Blog

Als ich anfing Aikido zu trainieren, hatte ich im Wesentlichen zwei Ziele: mich selbst verteidigen zu lernen und das auf eine möglichst defensive Weise, die dem Angreifer so wenig Schaden wie möglich zufügen sollte. Das physikalische Prinzip des Umleitens der Angriffsenergie zurück auf den Angreifer selbst faszinierte mich auf der technischen Ebene sehr. Die spirituellen Aspekte des Aikido, die Entwicklung und der Einsatz des Ki machten mich zwar neugierig, aber erschlossen sich mir doch lange Zeit nicht und stellten in Gestalt von Atemübungen, Dehnung, Achtsamkeit und Meditation doch eher ein etwas unliebsames Vorgeplänkel vor dem „eigentlichen“ Training (der Techniken) dar.
Der Fokus meiner Wahrnehmung lag auf der optimalen Technik – ohne Kraft, führend und lenkend, die Aikidoprinzipien beachtend: Dem anderen die Sinnlosigkeit seiner Aggression vor Augen führen, bevor er sich und mich schädigt, ihn auch durch ein mentales und technisches Ins-Leere-laufen-Lassen, so dass er den Angriff aufgibt. Der Konflikt und Angriff manifestierte sich in erster Linie im ersten Moment des physischen Kontaktes und daher war im wahrsten Sinne des Wortes das greifbarste Elemente für mich zunächst „Ma-Ai“ – dem optimalen Abstand zum Gegner/Partner.

Allerdings stellte genau dies mich vor große Probleme: In der Regel hatte ich mich noch keinen Zentimeter bewegt, während der Angreifer mein Handgelenk schon ergriffen hatte, oder ich war im Gegenteil schon einen Meter zurückgewichen, bevor er überhaupt losgelaufen war. Mein Vertrauen in die Technik war dementsprechend anfangs gering, was Zweifel und eine innere Unruhe verbunden mit der Sorge, ob Aikido im Notfall auch technisch funktionieren und mich schützen könnte, streute. Daraus speiste sich meine ständige Suche nach der Essenz des Aikido und der Kampfkünste überhaupt, nach Effizienz und dem Verständnis des großen Ganzen.

So zog ich nahezu systematisch durch verschiedene Stile des Aikido, von den verkürzten direkteren Formen zu den eher tänzerisch anmutenden Vollformen mit weiten runden Bewegungen und langen Laufwegen. Meine Suche trieb mich weiter zu den Ursprüngen des Aikido und der japanischen Kampfkünste überhaupt; insbesondere das Jiu-Jitsu und das traditionelle Karate zogen mich an und ich verstand, dass alle Stile des Aikido und Kampfkunstformen auf unterschiedliche Weise mit unterschiedlichen „Sprachen“ genau das gleiche Ziel verfolgten: Die Deeskalation eines Angriffes, was den optimalen Abstand zum Gegner erfordert. Während ein Aikidoka sofern möglich eher Distanz vorziehen würde, sucht ein Jiu-Jitsuka durchaus den schnellen direkten Kontakt, den er mit einer sehr massiven Technik nachhaltig beendet. Als ehemaliger Aikidoka wurde ich in der Regel eher belächelt, besonders weil mir das Ausweichen und im Vorfeld Lenken und Deeskalieren ja in diesem Kontext nicht möglich war. Ich erinnere mich gut an einen Unglücksfall, wo ein Schwarzgurt mich versehentlich heftig in die Nieren trat und reflexartig von mir mit einer verkürzten Form von Irimi-Nage auf die Matte geworfen wurde. Damit wäre meine Frage, ob Aikido und die Technik funktionieren, eigentlich beantwortet gewesen – und doch schien mir der Kern immer noch offen zu sein.

Gleichzeitig fühlte ich den stärker werdenden Wunsch wieder in mein Heimatdojo zurückzukehren. Als eher unsteter Mensch überraschte mich eine solch tiefe und nachhaltige Verbindung sowohl zu den Menschen als auch dem Ort als auch dem Aikidostil. Das hier das Prinzip des „Kontakt-Haltens“ am Werke war, dämmert mir genaugenommen erst jetzt, während ich diesen Text schreibe. Auch der Umstand, dass ich über all die Jahre heimlich immer noch Atemübungen im Wald oder Fallübungen oder Techniken trainierte, ließ mich die Verbindung nicht erkennen.

Gleiches gilt für das Konzept des Ki. Es blieb ein Geheimnis für mich, eine Art geliebtes und gesuchtes Phantom. Der Begriff des „Schickens“ blieb mir ungreifbar ebenso wie das Folgen (ohne zu klammern!) über die Energiepunkte des Handgelenks hinaus. Wie die meisten es sicher kennen, versuche auch ich oft genug eine nicht funktionierende, nicht fließende Technik mit ein wenig Kraft zu „verfeinern“, ohne zu bemerken, dass mein Gegenüber nur zu höflich ist, mir die Technik mit seiner (größeren) Körperkraft zu blockieren, um meinen Lernfortschritt nicht zu verhindern.

Ich verschlang Batterien von Aikidoliteratur, um die vielen spirituellen Aspekte des Aikido erfahren und verstehen zu können, meditierte, trainierte und erschloss mir immer wieder einzelne Erkenntnisse und Bereiche des Aikido. Natürlich staunte ich, wenn in einer der wenigen Notsituationen, die ich seit ich Kampfkunst übe noch geraten bin, die Technik „funktionierte“ und da es physikalisch nicht erklärbar war, nur „Ki“ der Grund sein konnte. Und ich spürte auch, dass meine Wahrnehmung sich verändert hatte, ich eine Straßenseite schon gewechselt hatte, bevor eine zwielichtige Jugendgruppe überhaupt Notiz von mir hätte nehmen können. Ich nutzte die Technik des „einen Punkt im Bauch halten“, um schmerzhafte Zahnbehandlungen leichter wegstecken zu können und lernte privat und beruflich meine Gefühle in kritischen Lebenssituationen besser zu kontrollieren, um die Angst vorm Tod in Zaum zu halten, um planvoll und hilfreich handeln zu können.
Auch bekam ich ein Gespür dafür, wie unangenehm es sein kann, einen schlecht gelaunten Danträger als Uke angreifen zu müssen und aufgrund seiner Ausstrahlung am Liebsten rückwärts zu fliehen anstatt vorwärts rennen zu wollen.
Und doch … verstand ich das „große Ganze“ nicht. Bis zur Pandemie, die wie ein Brennglas auf all unsere gesamtgesellschaftlichen und individuellen Entwicklungen wirkt.

Das erste Training nach dem monatelangen Lockdown – draußen bei frischen Frühlingstemperaturen mit 1,5 Meter Abstand, ohne Anzug und mit möglichst wenig Atemausstoß, da dieser als besonders infektiös gilt. Gesetz und Moral verpflichten gleichermaßen hierzu. Schon auf dem Weg frage ich mich – wie sieht ein gutes Training eigentlich aus? Was davon geht jetzt? Bleibt etwas übrig? Was macht Aikido überhaupt aus? Was ist das Herz des Aikido?

Einzelübungen, Erwärmung, Ki-Übungen wie Ikkyo-undo mit gebremster Atmung. Das Gegenteil! Stocktechniken, die teilweise mit Abstand wegen des Distanzwaffencharakters sehr gut funktionieren. Besonders wenn man sie von früher kennt, gelingt es leicht, sie gedanklich „zu Ende“ zu denken und es entsteht ein Gefühl von Vertrautheit. Es folgen klassische Partnerübungen, die normalerweise mit Griffen, Hebeln und Würfen funktionieren. Irritation bei mir wie allen anderen und schlagartig wird uns klar: Führen geht über Schicken und das ist Ki! Folgen geht über die Verbindung, das Kontakthalten und Dranbleiben. Man führt den anderen ohne den physischen Kontakt, in dem früher die Technik, das Aikido, gefühlt eigentlich erst begann, man lässt sich führen und bleibt „dran“, verbunden wie durch eine unsichtbare seelische Schnur. Spürbar wird eine Art Energiefluss und, wenngleich das körperliche und technische Element als Verstärker fehlt, so wird erstaunlicherweise klar, dass Aikido auch ohne jeglichen Körperkontakt über diese Energie funktioniert. Was mich persönlich sehr an die alten Videos des Meisters Ueshiba erinnert, wo die Gegner schon vor der physischen Berührung fallen und von dem Kommentar „If it doesn’t look fake it isn’t real Aikido“ begleitet werden.

Die Ausstrahlung, das Denken von Angriff und Umlenkung, die Prinzipien und die Energie selbst – all das drückt sich in der Technik über den Körper aus, aber im Grunde passiert alles schon vorher: Im Kopf und im Herzen der Menschen. Aikido findet zu 70% mental und 30% physisch statt, wenn überhaupt! (Wem das esoterisch scheint, dem empfehle ich das Studium des Verteidigungs- und Fluchtverhaltens von Wildtieren, insbesondere Wölfen. Viele physischen Kämpfe finden gar nicht statt sondern werden durch visuellen und territorialen Schlagabtausch zur Prüfung der mentalen und körperlichen Kraft ausgetragen, da Kontaktkämpfe die Population schwächen würden).

Die Pandemie zwingt uns alle, unser bisheriges Leben zu verändern und zu hinterfragen, und in vielen Bereichen ringt sie uns zahlreiche Entbehrungen ab. Und doch ist es ausgerechnet diese Krise, die mir persönlich hilft, das Wesen des Aikido besser zu verstehen – vielleicht kann sie auch eine Chance für unsere Entwicklung bieten. Vielleicht ist es kein Zufall, dass sich gerade jetzt der innere Kern des Aikido für mich endlich zusammenfügt. Aikido besteht aus übergeordneten Prinzipien, die sich in die kleinste Technik oder in das größte philosophische Prinzip denken lassen.

Sie zwingt uns, die uns vertrauten und gefestigten Pfade zu verlassen und hinter das Greifbare auf die Essenz zu schauen. Sie fordert uns als Aikidoka auf, unsere eigene Haltung und natürlich auch die eigene Technik ganz neu zu denken und zu hinterfragen – sie zwingt uns ganz genau hinzusehen und auf Vereinfachung zu verzichten.
Ein Mangel an körperlichem Kontakt zu anderen bietet neben allen Nachteilen auch einen großen Vorteil: Achtsamer zu werden, nichts wegzumachen und sich vorsichtig und kleinschrittig in Kontakt hinein zu bewegen. Nichts mit Druck zu überdecken, sondern zu spüren, zu schicken, Ki fließen zu lassen und die alten Hilfsmechanismen über Bord zu werfen. Zu schauen, was wirklich ist. Was es ausmacht, was uns ausmacht. Als Menschen und als Kampfkünstler, als Aikidoka aller Strömungen.

Das Virus ist aus menschlicher Sicht unser Gegner. Es greift uns – unser Leben – an und wir versuchen die destruktive Energie und den drohenden Schaden umzulenken und von uns abzuwenden und sogar in etwas Positives und Gutes für uns zu verwandeln. Aikido at its best.

Mitten im zweiten schon Monate andauernden harten Lockdown gibt es noch mehr Beschränkungen als im Frühjahr. Trotz der Minustemperaturen darf nur noch draußen kontaktfrei privat trainiert werden und mehr als zwei Personen sind generell nicht mehr erlaubt/sinnvoll.
So entstehen neue Wege: Gemeinsamem trainieren eine feste Trainingspartnerin und ich im Freien real oder telefonisch zeitversetzt Aikido, obwohl wir beide vorher noch nie ein Training geleitet haben. Kontakt halten unter schwierigsten Bedingungen. Es ist anders, es fehlen Aspekte schmerzlich, nicht zuletzt der Körperkontakt, den wir als soziale Wesen und als Lernhilfe für unsere technische und seelische Entwicklung so sehr brauchen. Die Strukturen fehlen.
Aber gleichzeitig ist genau deswegen auch so viel Raum für jene anderen Zugänge zu den Säulen des Aikido, für das Fühlen und Führen, für die Selbstwahrnehmung und Achtsamkeit und das Eingestehen der offenen Flanken, die Bedeutung von Ki und die Funktion der Technik. Für die Stärkung der Liebe zu uns selbst, die so wichtig ist für die friedvolle Abwehr angreifender Gegner. Für das Erleben der Angst vor der Verletzlichkeit oder dem Tod in Gestalt des Virus, die uns im Trainingsalltag und geschützten Leben eher abstrakt begegnet.
So kann die Pandemie mit all ihren Facetten uns nicht nur helfen bessere Aikidoka zu werden, sondern uns auch mit uns selbst und der Gegenwart zu verbinden.
Gelingt es uns dies, glaube ich fest daran, dass diese Zeit viel mehr sein kann als eine Phase des eingeschränkten Trainings und des begrenzten Lebens, sondern dass wir auch in der Pandemie eine bereichernde positive Entwicklung erleben können und werden.

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