Gibt es eigentlich „Aikido“?

Veröffentlicht in: Aikido, Blog

Was macht Aikido aus?

 

Man könnte einfach sagen, daß allen Aikido-Formen ein gemeinsames Repertoire an Techniken und Bewegungsprinzipien zugrunde liegt, das die Kampfkunst „Aikido“ hinreichend von aikijujutsu oder jiujutsu oder irgendeiner anderen Kampfkunst unterscheidet. Aber wie jeder weiß, der sich eine Weile in der Aikido-Welt bewegt hat, gibt es ein so weites Interpretationsspektrum in Bezug darauf, wie diese Techniken geübt und ausgeführt werden, daß die oberflächlichen Ähnlichkeiten von diesen Unterschieden überwogen werden.

Von Traditionsverfechtern in Japan wird die Ansicht vertreten, daß die Kunst als alleinige Schöpfung von Morihei Ueshiba anzusehen ist und daß Aikido daher das [geistige] Eigentum der Ueshiba-Familie darstellt. Auch wenn dies vielleicht die Überzeugung bestimmter Mitglieder des Aikikai Honbu Dojo in Tokyo sein mag, ist dieser Standpunkt meiner Ansicht nach nicht wirklich haltbar. Im Gegensatz zu den Koryu, den klassischen Kampfkunst-Stilen Japans, besitzt Aikido kein festes Curriculum oder eng definierte Standards für die Zertifizierung seiner Lehrer. Noch bevor der Begriff „Aikido“ seit den vierziger Jahren allgemein verwendet wurde, gab es eine breite Kluft zwischen den Interpretationen der verschiedenen frühen Lehrer. Die Systeme Yoseikan, Yoshinkan, Shodokan und Aikibudo (später Shin’ei Taido) entstanden als ausgeprägte Stile dessen, was im Begriff war, gemeinhin als „Aikido“ Bekanntheit zu erlangen.

Der Anspruch der Ueshiba-Familie auf „Aikido“ erklärt sich aus der Tatsache, daß Aikido mit O-Sensei als Begründer seinen Ursprung nahm. Aber noch vor dem Tod des Begründers im Jahre 1969 hatte dessen Sohn, Kisshomaru Ueshiba, begonnen, die philosophischen Aspekte der Kunst zu verweltlichen. Er hatte angefangen, die Techniken zu vereinfachen und den Einsatz von Waffen und die Verwendung der mehr kampfbezogenen Techniken zu reduzieren. Die Uchi deshi, die nach dem zweiten Weltkrieg Aikido in die Welt hinaus trugen, übernahmen jeweils verschiedene Elemente der Lehre des Begründers, sowie des zweiten Doshu und des Honbu Dojo cho (Hauptlehrbeauftragter) Koichi Tohei Sensei; von den unterschiedlichen Einflüssen anderer älterer Lehrer im Honbu Dojo ganz zu schweigen. Auch Saito Sensei, der Verwalter und Bewahrer des Aiki-Schreins in Iwama, hatte einen gewissen Einfluß auf die Lehrer, die nach Übersee gesandt wurden, hatten doch nahezu alle einige Zeit damit zugebracht, den Begründer bei seinen längeren Besuchen des Schreins und des Iwama-Dojo zu begleiten.

Ende der siebziger Jahre hatte dieser Prozeß weitestgehend dahingehend seinen Abschluß gefunden, daß japanische Shihan der Ausbreitung des Aikido in der ganzen Welt vorstanden. Aber sogar unter diesen Lehrern, die alle „Aikikai“-Lehrer waren, bestand eine weite Spanne hinsichtlich der Auslegung, was Aikido nun tatsächlich war. Einige legten weiterhin großen Wert auf Waffentraining, und manche entwickelten sogar ihr eigenes System. Andere legten wenig oder gar kein Gewicht auf Waffen. Manche ignorierten den neuen Trend aus dem Heimat-Dojo in Richtung auf ein weniger kampfbezogenes Aikido und behielten ein deutliches Gewicht auf Atemi und den mehr kampfbezogenen Techniken, die allmählich aus dem Repertoire des Honbu Dojo verschwanden. Und sogar in Japan hatte sich die spirituelle Orientierung der Kunst verschoben, weg von der traditionellen, religiösen und shintoistischen Anschauung, die grundlegend gewesen war für die Art, wie der Begründer seine Kunst aufgefasst und gelehrt hatte (eine Ausnahme bilden hier Lehrer wie Abe Seinsei, Hikitsuchi Sensei, Sunadomari Sensei und einige wenige andere).

Wenn auch ein gewisses Maß an Spiritualität erhalten blieb, lag doch die Betonung mehr auf den ethisch-philosophischen Elementen der Lehren des Begründers statt auf den mystisch-religiösen Aspekten, die nicht so leicht in andere Länder transportierbar waren und die sogar von den meisten modernen Japanern selbst als schwer nachvollziehbar und undurchsichtig angesehen wurden. Kisshomaru Ueshiba, der zweite Doshu, schrieb eine Reihe Bücher über Aikido, aus denen seine Anschauung klar hervorgeht. In den meisten Fällen wurde das Aikido-Training säkularisiert ohne nennenswerte Betonung der spirituellen Seite der Kunst zugunsten einer fast vollständigen Konzentration auf die technische Seite. Dies stand in starkem Gegensatz zur Gewichtung des Begründers. Dieser hatte mehr und häufiger über den spirituellen Unterbau des Aikido gesprochen und sich nur selten mit den technischen Aspekten des Trainings befaßt.

Als Tohei Sensei nach dem Tod des Begründers den Aikikai verließ, schuf er seinen eigenen Aikido-Stil, der sich stark auf die Entwicklung von Ki sowie auf waza (Technik) konzentrierte. Seine diesbezüglichen Ideen leiten sich dabei hauptsächlich von den Arbeiten von Tempu Nakamura ab statt von irgendetwas, das er direkt von O-Sensei lernte. Obschon diese Trennung eine schmerzliche Spaltung vom Aikikai bedeutete, verließen eine Reihe herausragender Lehrer die Organisation, um sich dem neuen Stil mit Namen Shin Shin Toitsu Aikido anzuschließen. Während der folgenden Jahrzehnte schlug die Mehrheit dieser Lehrer eigene Wege ein, indem sie ihre eigenen Organisationen gründete und so vermehrt zu der Auslegungsmixtur beitrug, die man im heutigen Aikido vorfindet.

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Zum Beginn des neuen Millenniums begegnen wir also einem Aikido, das wechselnd von Stilen, Organisationen und einzelnen Lehrern definiert wird. Zusätzlich zu den bereits erwähnten anerkannten „Stilen“ schufen einige Lehrer wie z.B. Saito Sensei, in dem Versuch ihr sehr traditionelles Aikido von anderen Formen zu unterscheiden, quasi einen eigenen neuen „Stil“. Tatsächlich wird von „Iwama-Stil“ gesprochen, obschon Saito Sensei sein Aikido nie so bezeichnet noch Aikikai Honbu es unter dieser Bezeichnung anerkannt hat.

Einzelne Lehrer, wie Mitsugi Saotome, gingen ihrer eigenen Wege (in diesem Fall in den USA), gründeten ihre eigenen Organisationen, um schließlich wieder mit dem Aikikai Honbu Dojo vereinigt zu werden. Eine solche „Organisation“, geführt von einem talentierten, charismatischen Lehrer, wurde schnell zu einem neuen Vehikel, Aikido bekannt zu machen und zu verbreiten. Es wurde somit möglich, eine eigene Organisation mit ihrer eigenen Interpretation von Aikido zu haben und gleichzeitig der größeren Organisation des Aikikai anzugehören. K. Chiba Senseis Birankai ist ein Beispiel hierfür. Die Wiederaufnahme zuvor entfremdeter Gruppen gepaart mit der Duldung von Organisationen innerhalb der größeren Organisation des Honbu hat das Entstehen erkennbarer separater „Stile“ verlangsamt. Trotzdem wird dadurch nur oberflächlich verdeckt, dass weiterhin eine große Bandbreite in Bezug auf Herangehensweise und Technik sogar unter den Lehrern besteht, die genau zur gleichen Zeit unter dem Begründer trainiert haben.

In den meisten Ländern gibt es inzwischen hochrangige nicht-japanische Lehrer auf einer Erfahrungsstufe, die einst einem Shihan entsprochen hätte. Diese Lehrer haben ihre eigenen Vorstellungen, was mit ihrer Kunst in ihrem eigenen Land geschehen sollte, Ideen, die nicht immer in Übereinstimmung mit den japanischen Ansichten sind. Darüber hinaus hat natürlich das Heranwachsen von nicht-japanischen Lehrern den Mythos, der die alten japanischen Lehrer umgibt, die noch unter dem Begründer trainiert haben, gemindert. Nun sind es die Schüler der Schüler dieser Lehrer, die ihre eigenen Schulen leiten. Die reine Zahl der Praktizierenden, insbesondere in Frankreich und den USA, hat es für die Uchi Deshi des Begründers praktisch unmöglich gemacht, in den Ländern, in denen sie sich niedergelassen haben, der Haupteinflußfaktor zu bleiben. So nimmt inzwischen Aikido einzelne nationale Charakterzüge der verschiedenen Länder an, in die es verbreitet wurde, mit zunehmenden Differenzierungen unter einer wachsenden Zahl hochrangiger Lehrer.

Gegenwärtig scheint daher eine Anbindung an das Aikikai Honbu in Japan eher eine sentimentale Angelegenheit zu sein, statt eine für die weitere Entwicklung der Kunst in den verschiedenen Ländern bedeutsame Bindung.

Offensichtlich stellt der Ausdruck „Aikido“, der historisch gesehen vielleicht einmal eine ganz bestimmte Sache bezeichnet hat, heutzutage vielmehr einen allgemeinen Sammelbegriff für eine Reihe von mehr oder weniger kampfbezogenen Bewegungssystemen dar, die nur noch oberflächliche Gemeinsamkeiten besitzen. Zu sagen, daß man Aikido betreibt, ist so, als würde man sagen, daß man die chinesische Küche mag. Welche Art der chinesischen Küche? Sichuan, Hunan, Shanghai, Peking? Welche Art Aikido? Yoseikan, Yoshinkan, Shodokan, Aikikai? Aikikai? Nun, das allein sagt ja schon nicht so viel aus … es hängt ganz ab vom jeweiligen Lehrer innerhalb der Organisation oder sogar von der Organisation innerhalb welcher (Ober-)Organisation.

Das mag jetzt alles unglaublich verwirrend erscheinen. Aber ich habe meine Überlegungen hier deshalb angestellt, weil ich dazu beitragen möchte, daß wir alle unsere Neigung überwinden, darüber zu diskutieren, was das „wahre“ Aikido oder welches Aikido das authentischste ist. Ich glaube nicht, daß es jemals etwas gegeben hat, das als „Aikido“ im Sinne eines „Stils“ definierbar war. Die Tatsache, daß der Begründer sein gesamtes Leben damit verbrachte, seine Kunst zu entwickeln und zu verfeinern, bedeutet, daß das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt den Namen Aikido trug, nur eine Momentaufnahme dessen darstellte, was sich bis zum Tode des Begründers in ständiger Veränderung befand. Es macht daher kaum Sinn, darauf zu bestehen, daß dieser oder jener Ansatz stichhaltiger oder gültiger ist als irgendein anderer. Es geht letztlich nur darum, den Ansatz zu finden, der für den Einzelnen am besten funktioniert. Viel mehr läßt sich dazu nicht sagen.

© George Ledyard, Aikido Eastside
Übersetzung Karl Breuer, mit freundlicher Genehmigung des Autors

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